Why bother?

Meine Mutter hatte mit 16 Jahren ihre Ausbildung zur Krankenschwester begonnen. 43 Jahre hatte sie als Krankenschwester im selben Krankenhaus gearbeitet. Etwa 20 Jahre hatte sie die Station geleitet, was sie allerdings nicht davon entbunden hatte, weiterhin Patienten zu pflegen und ausschließlich organisatorische Aufgaben zu übernehmen. Dass sie weiterhin Pflegeaufgaben übernehmen musste, war eine Folge von Budgetkürzungen, die v.a. bedeuteten, dieselbe Arbeit von weniger Personal erledigen zu lassen (tatsächlich bedeutet das natürlich, dass wenige Leute mehr Arbeit erledigen müssen).

Es gibt wenig, was mich mehr langweilt und misstrauischer macht als Leute, die in erster Linie oder ausschließlich über ihre Arbeit sprechen. Langweilig ist das meistens, weil nur wenige Leute irgendwie gut erzählen können und nur wenige Arbeit an sich interessant ist. Misstrauisch werde ich (und das passiert sehr häufig, wenn Leute über ihre Arbeit sprechen), weil die Person meistens davon überzeugt ist, sie wäre die einzige, die wisse, wie die Arbeit sinnvoll zu erledigen sei, während sowohl die lieben KollegInnen als auch die Vorgesetzten grundsätzlich zu blöd, zu faul oder sonstwie unfähig seien. Misstrauisch werde ich angesichts des Umstandes, nähme man all diese Erzählungen (richtiger wohl Beschwerden) zusammen und sie entsprächen der Wirklichkeit, dürfte in deutschen Betrieben, Unternehmen, Behörden etc. nichts produziert werden bzw. die entsprechenden Betriebe, Unternehmen, Behörden etc. stünden kurz vor dem Kollaps.

Wenn ich meine Mutter auf der Station besuchte oder von der Arbeit abholte (der Betriebskindergarten liegt direkt nebenan, so konnte ich einfach rübergehen), saßen die Schwestern häufig im Schwesternzimmer, tranken Kaffee und rauchten. Ich vermute, was wenig verwunderlich wäre, dass Nikotinsucht nicht die einzige Sucht gewesen war, die den Arbeitsalltag der Krankenschwestern erleichterte. Die Augen meiner Mutter waren abends immer glasig und wenn man mit ihr sprach, reagierte sie langsam, nahm die Wirklichkeit nur in Zeitlupe wahr. 5 Monate vor ihrem 70. Geburtstag ist sie an Krebs gestorben, nachdem sie fünf oder sechs Jahre darunter gelitten hatte. Das ganze Programm aus mehrstündigen OPs, bei denen sie ausgeräumt worden war, und den folgenden Chemotherapien waren für sie nicht mehr auszuhalten gewesen.

Von ihren 69 Lebensjahren hat meine Mutter 26 Jahre nicht gearbeitet. Die Arbeitsjahre wurden durch Feiertage und dreiwöchige Urlaube in Italien unterbrochen. Das erscheint mir als ein sinnloses Leben.

Aber es stimmt natürlich nicht, dass nichts produziert wird. Wenn es allerdings zutrifft, dass die Arbeit nur von wenigen Leuten erledigt wird, die fähig sind und weil sie fähig sind, diese Arbeit auch gerne machen, kann man die Frage stellen, warum die ganzen anderen Leute überhaupt zur Arbeit gehen? Welche Arbeit machen Sie da eigentlich? Oder atmen diese Leute nur Luft aus den Büroräumen weg? Oder hat der Anthropologe David Graeber Recht, wenn er davon ausgeht, es gehe in erster Linie darum, Leute mit Bullshit Jobs zur Arbeit zu zwingen bzw. die Fiktion von Effizienz aufrecht zu erhalten? Und was ist überhaupt aus der Vorstellung, der Idee, der Vision geworden, zivilisatorischer Fortschritt sei dadurch gekennzeichnet, dass Leute weniger arbeiten müssen?

Ein Arbeitsleben wie das meiner Mutter ist heute nahezu undenkbar geworden. Was heute zählt ist Flexibilität, unabhängig von der Branche, in der man tätig ist oder tätig werden möchte. Flexibilität bringt es mit sich, dass es Phasen gibt, in denen man zwischen Jobs ist, d.h. man ist mehr oder weniger lange arbeitslos. Und falls man sich mal richtig gedemütigt fühlen möchte, muss man sich nur in das System der Bundesagentur für Arbeit begeben. Nun war ich schon mehrfach arbeitslos, was ja nur heißt, dass man niemanden hat, der einen dafür bezahlt, irgendwas zu tun. Die Default-Einstellung der meisten Leute ist, dass Leute, die arbeitslos werden, selber schuld daran sind, dass sie verantwortlich dafür sind und möglichst jede Kackarbeit annehmen sollten, die einem angeboten wird. Nur dann darf man sich nämlich über die Verhältnisse beschweren, nur wenn man ein arbeitendes, mehr oder weniger produktives Mitglied der Gesellschaft ist, darf man Ansprüche anmelden. Bist Du nicht bereit, irgendeine Erwerbstätigkeit anzunehmen, hast Du das Maul zu halten. Ich wusste, dass sich meine Mutter gegenüber ihren Freunden und Bekannten geschämt hat, einen Sohn zu haben, der arbeitslos ist. Dass das durchaus dazugehört, wenn man sich für die Arbeit an einer Universität entschieden hat, konnte ich ihr 100-mal erklärt haben, geschämt hat sie sich dennoch.

Wofür arbeiten wir eigentlich? Nur um noch mehr Scheiß anzuhäufen, dessen Gebrauchswert meist gegen null tendiert? Fredric Jameson, der alte Linke, hat berechtigt festgestellt, dass es einfacher sei, sich das Ende der Welt vorzustellen, als das Ende des Kapitalismus. Dasselbe gilt für Arbeit, ein Kult.

365 Tage im Jahr, 43 Jahre = 15.695 Tage Arbeit. Dass das als normal angesehen wird, ist Wahnsinn.

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